Was man über Chakren wirklich wissen muss
Meistens gehen wir in dem Glauben durchs Leben, ein physischer Körper zu sein – unsere Realität ist auf unsere typischen Sinneswahrnehmungen beschränkt.
Aber was wir alle sehen, berühren und messen können, ist nicht die ganze Wahrheit. Oder vielleicht überhaupt nur ein Bruchteil: Wir sind multidimensionale Wesen – was du wahrscheinlich schon ahnst, wenn du diesen Artikel angeklickt hast.
Was das heißen soll? Wir bestehen nicht nur aus Materie, sondern auch aus Energie. Wir SIND Energie.
Auch unsere Zellen bestehen aus Atomen, die wiederum aus Energie bestehen. Das sagen uns sogar die Naturwissenschaften, nur ist es in unserem materialistischem Life noch nicht ganz angekommen.
Dass wir Einfluss auf unsere eigene Energie nehmen können, wissen die wenigsten. Im Alltagswortschatz merkt man aber, dass das Konzept von Energie auch den skeptischeren Menschen bekannt ist: Verbringen wir Zeit mit jemand, der uns runterzieht, raubt er uns die Energie, sagt man. Mal geht es uns schlecht, unsere Energie ist „low“, mal sind wir on top of the world, „high vibration“. Energie kann also unterschiedliche Qualitäten annehmen und ist fluide.
Leider ist diese Art über Energie zu sprechen weder Thema im Biologieunterricht, noch lernen Eltern ihren Kindern in der Regel etwas über Lebensenergie und den Umgang damit. Viele von uns merken aber, dass es da mehr gibt und versuchen irgendwie zu verstehen, was in uns abgeht.
Wilde These: Genau darum sind wir fasziniert von Meditation und Yoga, von Methoden wie Reiki oder Akkupunktur. Etwas Vergleichbares finden wir in unserem Kulturkreis nicht wirklich.
In modernem Yoga trifft man auf ein zentrales Tool, um verschiedene Energiequalitäten einzuteilen und damit zu arbeiten: das Chakra System. Oder besser gesagt: Ein Chakra System. Es gibt verschieden Versionen, manche sprechen von fünf, manche von sechs, sieben oder mehr Hauptchakren.
DAS Chakra System gibt es nicht, weder wird es heute in unterschiedlichen Yoga Schulen einheitlich gelehrt, noch in den alten Texten. Chakren soll es extrem viele geben, genau wie Energiebahnen (Nadis / Meridiane).
Das Chakra System soll die multidimensionale, energetische Zusammensetzung und die dazugehörigen Energiezentren des Menschen beschreiben. Chakren sind demnach scheibenförmig und befinden sich wenige Zentimeter vor dem physischen Körper, ihre Wurzel haben sie in der Wirbelsäule.
Sie haben vielfältige Wirkungsdimensionen, das heißt, sie wirken auf:
den physischen Körper
den Energiekörper (den aus Prana bestehenden Körper)
Gefühle & Gedanken
und unsere spirituelle Dimension
Mit den jeweiligen Chakren werden auch Elemente verbunden. Sie können außerdem schwach oder stark entwickelt sein, geöffnet oder blockiert, oder balanciert bzw. nicht balanciert. Es gibt noch unendlich viele weitere Zuschreibungen und Details.
Oft wird ein Chakra mit bestimmten Organen und Drüsen assoziiert und soll diese beeinflussen, mit dem Chakra selbst ist aber nicht diese Drüse oder das Organ gemeint. Der physische Aspekt vom Herzchakra wird z.B. der Thymusdrüse, Lunge und Herz zugeordnet.
Körperliche Bereiche, psychologische oder Persönlichkeitsaspekte, Gedanken, Emotionen, Bedürfnisse oder Fragestellungen des Lebens, laut New Age Literatur kann eigentlich alles in und um uns in dem System zugeordnet werden. Eines der heute bekanntesten neuen Bücher über die Chakren wurde in den 80ern geschrieben und ordnet den Energiezentren sogar Farben und noch alles mögliche andere zu.
Warum sind die Chakren so wichtig?
Es geht einfach darum, uns auf allen Ebenen zu stärken und zu heilen.
Will man zum Beispiel an Fokus, Selbstbewusstsein und Willensstärke arbeiten, dann sollte man sich mit Manipura Chakra beschäftigen – dem Solar Plexus beim Nabel.
Über oder durch die Chakren soll nicht nur Gesundheit und persönliche Weiterentwicklung gefördert, sondern der Zustand des Yoga erreicht werden, nämlich Vereinigung: Wir als Praktizierende bilden einen Mikrokosmos, der sich mit dem Universum, dem Makrokosmos, durch Yoga in Resonanz versetzen und damit vereinen kann.
Das Ziel ist ein spirituelles: die Realisierung, dass alles und jede*r Teil einer Kontinuität ist und nicht nur individuell existiert. Durch die Aktivierung der Kundalini Kraft, die die Chakren aktiviert, soll man dieser Vereinigung näher kommen können.
Die Evolution des Bewusstseins von den unteren Chakren zum Höhesten repräsentiert den spirituellen Weg der Praktizierenden: Ganz unten ist das Erdelement, das den körperlichen, materiellen und physischen Aspekt von uns und der Welt darstellt. Je weiter nach oben man geht, desto feinstofflicher, subtiler wird die Qualität der Energie: Liebe, Vision, Intuition.
Wie werden die Chakren aktiviert?
Oft hört man, dass die Asanas dazu entwickelt wurden, den Körper der Praktizierenden fit zu halten, damit sie stundenlang sitzen und meditieren konnten. Eine andere Theorie besagt, das frühe Yogis herausfanden, dass die Positionen nicht nur auf den physischen Körper wirken, sondern tiefere oder weiterreichende Effekte haben: Sie aktivieren die Chakren.
Yoga funktioniert demnach durch gezielte Aktivierung dieser, indem der Geistes auf das jeweilige Chakra konzentriert wird, während man sich in einer bestimmten Körperhaltung befindet. Auch Pranayama, Meditation oder Kriyas können auf ein bestimmtes Zentrum fokussieren. Dieser Ansatz wird vor allem tantrischem Yoga zugeordnet.
Prinzipiell kann man davon auszugehen, dass man auch im alltäglichen Leben Chakraaktivierungen erlebt: Wenn man sich mit den Elementen verbinden, etwa Luft auf der Haut spürt, wenn man berührende Musik hört oder sonst irgendwie einen höheren Bewusstseinszustand erlebt.
Bevor dir das Hirn wegfliegt:
Tief durchatmen, du musst dir das nicht merken, es auch nicht verstehen oder glauben. Dieser Artikel ist nicht dazu da, irgendein Wissen über die Chakren als Wahrheit zu claimen und weiterzugeben, sondern zum Kontextualisieren und erklären, was es mit den Chakren überhaupt auf sich hat und was wir, als Praktizierende und vor allem als Yogalehrer*innen wirklich wissen sollten; nämlich, wie wir mit den Chakren umgehen und weniger, welcher Edelstein welches Chakra in welcher Farbe glitzern lässt.
Ich selbst war, als ich zum ersten Mal von dem allem gehört habe, extrem hooked. Es war mein erster Kontakt mit einer spiritueller Lehre, noch dazu im Zusammenhang mit Persönlichkeitsentwicklung, Selbstermächtigung und holistischer Gesundheit – alles Dinge, die mir im katholischen Kindergarten vorenthalten wurden.
Die Arbeit mit den Chakren versprach, mich selbst und meine Stärken und Schwachpunkte besser zu verstehen und mir zu helfen, letztere auszugleichen.
Zum Beispiel machte es für mich plötzlich Sinn, dass ich als Kind jahrelang starke Rachenentzündungen hatte, weil hier, im Halschakra, offenbar viel Energie stagniert: Kommunikation und Selbstausdruck sind extrem wichtige Lebensthemen von mir; wenn ich es versäumt habe, was Wichtiges auszusprechen, bekam ich Halsschmerzen. Wo die größten Blockaden, da das größte Potenzial sozusagen.
Die Idee von den Chakren stellt somit einen phsychosomatisch-spirituellen Zusammenhang her; etwas, das mir sonst so noch nie wo begegnet ist. Es klingt jedenfalls alles sehr plausibel.
Wir lernen, wie schon gesagt, im Rahmen unserer institutionellen Bildung aber nicht nur kein Wort von unserer Energie, sondern auch nicht, mit unseren Gefühlen und Gedanken umzugehen, uns selbst anzuschauen und zu verstehen.
Yoga und das Chakra System fasziniert gerade deshalb so. Die Lehre bietet unserer Generation außerdem, nachdem viele unserer Eltern sich wehement gegen die Kirche gewehrt haben, die Möglichkeit, uns undogmatisch mit etwas Höherem zu verbinden.
Aber genau das macht es auch schwierig: Yoga entstand nicht in St. Pölten, sondern vor langer Zeit in Tibet und Indien, eben in einem völlig anderen Kulturkreis (und in einer komplett anderen Zeit) als der unseren. Die alten Texte über die Lehre sind in einer Sprache, die niemand von uns verstehen kann, und wurden selbst oft erst spät aufgeschrieben, nachdem die Lehre ursprünglich direkt vom Guru zu seinen Schülern, ohne Lehrbücher, weitergegeben wurde.
Trotzdem: Energiezentren wurden aber schon in sehr alten Texte beschrieben, wie Sanskrit Forscher festgestellt haben.
So erwähnen Patanjalis Yogasutras um Chr. und auch Bhagavat Ghita erwähnen drittes Auge. Was wir heute unter dem Chakrasystem verstehen ist eigentlich erst mit dem Boom von Hatha Yoga und im Westen groß geworden, bzw. wirkt eine westliche Version von Yoga schon lange auf die Vorstellung davon in Indien zurück und eine „Originalversion“ ist sogar in Ashrams schwer festzustellen.
Gute Quellen stehen uns jedenfalls nicht zur Verfügung. Wir bekommen unsere Infos nicht von Gurus im Himalaya, sondern sind auf unsere Teacher Trainings und auf neue Bücher angewiesen, dabei verlassen wir uns darauf, als hätten wir’s im Studium an der Uni gelernt.
Alles über die Chakren wurde, wie viele andere Aspekte von Yoga auch, x-tausendmal weitergegeben, abgeändert, schließlich von meist Weißen übersetzt, falsch interpretiert, verzerrt, verwässert und an die westlichen Bedürfnisse und unser Weltbild angepasst. Was nicht nur bezüglich einer kolonialistischen Haltung problematisch ist, sondern auch jede Menge Verwirrung stiftet. Niemand von uns ist also Chakraexpertin. Dessen muss sich jede*r Yogi*ni bewusst sein.
Wie wir mit der Info umgehen ist aber wichtig, wenn man seine/ihre Zeit optimal nutzen will, vor allem, wenn die Praxis über die wöchentliche Flow Session hinausgeht und es mehrere Stunden pro Tag sind. Das Leben ist zu kurz für wirkungslose, wahllose Übungen und wir alle wollen „the real deal“.
Aber ob es den gibt? Können wir das Ganze völlig vergessen, wenn wir auf Aberglaube und eine respektlose Aneignung verzichten wollen? Können wir überhaupt von Chakren sprechen? Sollen wir, weil es hier schwierig und kompliziert wird, darauf verzichten, mit Energiequalitäten zu experimentieren oder bestimmte Aspekte von uns gezielt weiterzuentwickeln?
Die Kraft des menschlichen Geistes ist jedenfalls die stärkste überhaupt. Where attention goes, energy flows. Wenn ich mich mit voller Konzentration auf eine Stelle in meinem Körper konzentriere, dann werde ich dort auch früher oder später etwas spüren und in meinem Bewusstsein wird sich etwas verändern. Ganz egal, ob ich schon einmal von den Chakren gehört habe, oder nicht.
Ein Chakra und auch das System an sich ist nichts Fixes, sondern fluide. Ihre Existenz ist kein Fact, der gemessen oder bestimmt werden kann, so wie wir uns das mit unseren western minds vorstellen.
Wer Menschen beobachtet, stellt aber fest: Jedes Chakra und die zugeschriebenen Qualitäten gehören zum Leben und kommen uns bekannt vor. Wir kennen diese verschiedenen Aspekte des Mensch-seins, die das Chakrasystem einteilt.
Es gibt ein paar Zentren im menschlichen Körper, die nicht nur im Yoga, sondern auch im Christentum und in vielen anderen Lehren beschrieben werden; Stellen, an denen Menschen aus unterschiedlichen Kulturen seit jeher emotionale und spirituelle Phänomene spüren:
Im unteren Bereich des Oberkörpers (Sexualorgane/Bauch), man sagt „they don’t have the guts“ – im Bauchbereich ist unser Selbstbewusstsein lokalisiert.
auf der Brust (im Herz): Jede*r hat sicher schon jeder einmal gespürt, dass es hier fast weh tut, wenn wir trauern, dass das Herz bei Freude hüpft, bei einem Sonnenuntergang, wenn wir Drogen nehmen. Wir sagen „ich bin“ und legen die Hand auf die Brust, nicht aufs Knie oder sonst wo: hier ist das zentrales Mensch-Sein lokalisiert.
über dem Kopf: denke an Redewendungen wie „es geht uns ein Licht auf“ wenn wir eine Eingebung haben. Man sieht, dass die christlichen Ikonen und auch Darstellungen von Buddha oder den hinduistischen Gottheiten immer etwas über dem Kopf haben – Heiligenschein. Das „dritte Auge“ oder Ajnachakra ist auch den meisten noch bekannt: Wenn wir uns konzentrieren oder nachdenken, dann ist da oft Anspannung spürbar.
Das Gute ist: Yoga ist vor allem auch Selbsterfahrung. Praxis und Erfahrung steht immer über Theorie. Erfahrene Teacher können zwar weitergeben, was sie selbst über längere Zeit geübt haben. Sie können sagen, was für sie wirkt und was nicht, und im besten Fall auch auf eine Tradition zurückgreifen. Darauf muss man sich aber nicht verlassen und auch Traditionen dürfen sich verändern.
Im Yoga findet aktuell sowieso ein Wandel statt; weg von Lineages oder großen, traditionsreichen Schulen, hin zum Embodiment: einer weniger strengen, selbst erfahrenen und verkörperten Version der Lehre.
Als Yogalehrer*innen und Praktizierende können wir versuchen, einen Mittelweg zwischen neuen Paradigmen und Traditionen finden: Einerseits sollten wir uns bemühen, so dekolonialisierend wie möglich an Yoga heranzugehen. Nicht zu behaupten, wir wüssten über „die Chakren“ bestens Bescheid. Wir können ganz ehrlich sagen, dass keine englischen Texte darüber wirklich gute Quellen sind und das Yoga sehr komplex ist, dass verschiedene Schulen unterschiedliche Konzepte verwenden. Diese können wir auch so gut es geht studieren und ausprobieren. Und wir dürfen noch mehr auf unsere eigene Erfahrungen eingehen und in den Klassen dazu aufrufen, innere Wahrheiten noch besser spüren zu lernen.
Gleichzeitig müssen wir uns bewusst sein, dass es einen Unterschied zwischen Fitness- und Dehnübungen oder Tanz und Yoga gibt und wir diesen Unterschied auch respektieren sollten: Falls die wirkliche Auseinandersetzung mit dem energetisch-spirituell-philosophische Part jemanden nicht interessiert oder wir es nicht unterrichten wollen, ist es auch völlig legitim, einfach Movement oder Flow zu dem zu sagen, was wir unterrichten.
Wissenschaftliche Forschung bestätigt darüber hinaus mittlerweile durch tausende Studien die positive Wirkung von Yoga auf Körper und die Psyche, und wer‘s braucht, dem sei eine Google Suche solcher Papers empfohlen.
Und wir können auch ohne Yoga anfangen, uns einzugestehen, dass wir eben mehr sind, als Haut und Knochen. Psychosomatik- und Therapie und alle möglichen Formen der Bewusstseinserweiterung und der Arbeit mit Energie als alternative Therapien werden erforscht wie nie und kommen langsam, aber sicher in der Mitte der Gesellschaft an.